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Versorgungsforschung und Vernetzung.
Ein Frühwarnsystem zur Erkennung epidemiologischer Gefahren

Was man nicht weiß, das eben brauchte man,
Und was man weiß, kann man nicht brauchen.
Goethe, Faust I

 

Die frühzeitige Erkennung von neuartigen epidemiologischen Gefahren erfordert Instrumente, die über das bisherige Meldewesen bekannter Infektionskrankheiten hinausgehen.

Seit fast 40 Jahren werden in den niedergelassenen Arztpraxen Patientendaten unter Abrechnungsgesichtspunkten sorgsam dokumentiert. Zusätzlich werden seit nahezu 30 Jahren Laborwerte elektronisch und gut strukturiert von den Laboren in die Arztpraxen übertragen.  In den letzten 15 Jahren mehren sich in den Arztpraxen streng reglementierte Fall- und Qualitätssicherungsdokumente, die von den Krankenkassen vergütet werden.

Alle diese Datenbestände sind auf ihren Verwendungszweck hin – Abrechnung, Laborstatus des Patienten und Qualitätssicherung – ausgerichtet, enthalten aber dennoch wertvolle Daten, um frühzeitig neuartiges Infektionsgeschehen zu erkennen. Um diese Daten jedoch nutzen zu können, müssen sie suchmaschinenartig und im Verbund abgefragt werden können.

Der Verein für Versorgungsforschung und Vernetzung hat das Ziel, die hausärztlich internistischen Datenbestände für eine suchmaschinenartige Abfrage verfügbar zu machen. Google ist kein Arzt und darf kein Arzt werden, aber der Arzt kann sein eigenes Google werden. Gerade in großen ärztlichen Versorgungsstrukturen wie einem MVZ kann die suchmaschinenartige Abfrage der eigenen Daten die Diagnostik und Therapie unterstützen („der schwierige oder ähnliche Fall“). Können dieselben Daten dann anonymisiert in einem Verbund von niedergelassenen Ärzten abgefragt werden, entsteht ein wirksames Frühwarnsystem zur Identifikation epidemiologischer Gefahren und eine neuartige Grundlage für die Versorgungsforschung.

Unsere Ziele

Ziel des Vereins für Versorgungsforschung und Vernetzung ist es, eine vernetzte Suchmaschine zu entwickeln, die Daten aus zwei verschiedenen und bisher vollständig unabhängigen Quellen verknüpft, um Fragen der Versorgungsforschung zu beantworten. Die Quellen sind:

  • die Informationssysteme der niedergelassenen Arztpraxen (AIS),
  • die Informationssysteme niedergelassener Laboratorien (LIS)

Beispiele für Fragestellungen, die mittels einer solchen Suchmaschine bearbeitet werden können, sind die Erfassung der Ausbreitung einer Infektionskrankheit in der Allgemeinbevölkerung („Infektionsticker“), die frühzeitige Erkennung und die Überwachung von Medikamentennebenwirkungen in der Allgemeinbevölkerung („Nebenwirkungsticker“), und die Erkennung unerwünschter Medikamenteninteraktionen in der Allgemeinbevölkerung („Interaktionsticker“).

Die Vorteile eines solchen Systems für die epidemiologische Forschung insgesamt liegen auf der Hand. Auch soll der Stimme der niedergelassenen Ärzte in epidemiologischen Krisen wieder mehr Geltung verschafft werden. Der Sicherstellungsauftrag der niedergelassenen Ärzte (Kassenärztliche Vereinigungen) wird in Zukunft auch die Frage der Beschaffung der Zahlen und der Gefahreneinschätzung betreffen, denn die niedergelassenen Hausärzte sind der erste Kontakt, der neuartige Gefahrenlagen beobachtet und erkennen können sollte.

Hintergrund und Fragestellung

Die rasche Erkennung von Infektionsentwicklungen sowie die frühzeitige Identifikation der sozialen oder regionalen Verhaltensmuster, die zur Verbreitung einer Infektion bei­tragen, können wesentlich verbessert werden durch die Erschließung der umfangreichen Datenbestände in den Arztinformations­systemen (AIS), die dort seit Ende der 80er-Jahre entstanden sind.

Bisherige Versuche zur Öffnung dieser Datenbestände und dieses Wissenspotenzials für die allgemeinmedizinische Versorgungsforschung scheitern an aufwendigen Schnittstellen, sehr heterogenen technischen Umgebungen und mühseligen Zugriffswe­gen.

Die bisherigen Auswege einer immer genaueren Dokumentation einzelner Krankheitsfälle (DMP) und einer ausufernden Qualitätssicherung schaffen zwar neue und strukturierte Datenbestände, die jedoch Bekanntes dokumentieren und durch ihren hohen bürokratischen Aufwand dazu tendieren, genau die abweichende und atypische Beobachtungen auszublenden.

Das hier vorgestellte Verfahren konzentriert sich vorrangig auf die unstrukturierten hausärztlichen Datenbestände und bringt mehrere technische Entwicklungen und Vorleis­tungen der Initiatoren zusammen, die einen Datenzugriff innerhalb kürzes­ter Zeit (im Sinne einer Online-Suchmaschine) erlauben.

Integration und weitere Vorgehensweise

Der Verein für Versorgungsforschung und Vernetzung leistet die erforderlichen Vorarbeiten oder beschafft die notwendigen Technologien und Kenntnisse, die dann wie folgt zusammengeführt werden.

Jede Arztpraxis, die am Projekt teilnimmt, aktiviert eine Suchmaschine, mit der der Daten­bestand der Arztpraxis nach Patientennummern (als Pseudonym-ID) anonymisiert aufbereitet und für Abfragen beliebiger Kombination (Suchmaschinenverhalten) bereit­gestellt wird. Die Anonymisierungsregeln sind hierfür abzustimmen.

Die zentrale Suchmaschine im Rechenzentrum fungiert als Verteiler bzw. als Metasuchma­schine, die für ausgewählte Nutzer die Suchanfrage an die lokalen Suchmaschinen in der Arztpraxis weiterreicht und dann die Trefferlisten zusammenführt und präsentiert. Die relevanten Daten bleiben in der Arztpraxis, die Abfragen werden vom Verein kontrolliert und nach einem strikten Regelwerk ausgeführt.

Als Arztpraxis können auch Laborärzte teilnehmen, so dass die Laboraufträge anhand der Auftragsnummer mit den erweiterten medizini­schen Daten der Arztpraxis und mit den Laborbefunden des Facharztlabors ge­koppelt werden können. Suchergebnisse verweisen immer auf die Arztpraxis, die dann die Pseudonym-ID der Suchobjekte in den realen Fall auflösen kann. Alternativ kann der Laborbefund auch in der Arztpraxis für die Suche aufbereitet werden. Abhängig von der Qualität der Dokumentation in der Arztpraxis fließen in die Suchergebnisse auch soziale und andere Randinformationen ein, soweit sie vom Arzt in der Anamnese und Befundung erfasst wurden.

In der Pilotphase des Projektes sollten zunächst wenige Arztpraxen (MVZ) teilnehmen sowie ausgewählte Praxen aus der Gruppe Facharztlabore. Das Gelingen des Gesamtprojektes ist nicht abhängig davon, dass alle Arztpraxen in Deutschland für die Online-Versorgungsforschung angeschlossen werden müssen. Vielmehr reicht es für die Endausbaustufe und Aussagekraft der Daten aus, eine relevante Teilnehmergruppe von vielleicht 1500 bis 2000 Arztpraxen bundesweit verteilt zu gewinnen. Möglicherweise ist eine aussagekräftige Datenbasis auch schon mit einer deutlich niedrigeren Teilnehmerzahl erreicht, sofern diese ärztlichen Strukturen entsprechend große Einzugsbereiche ihrer Patienten haben.

Die Suchmaschine kann für den internen Gebrauch zunächst vollständig entwickelt werden. Für die praxisübergreifende Abfrage müssen jedoch die datenschutzrechtlichen Rahmenbedin­gungen geklärt worden sein. Insbesondere müssen die Fragen beantwortet werden, ob die anonymisierte Aufbereitung der Daten einer Einwilligung des Patienten bedarf oder ob die Einwilligung erst dann erforderlich wird, wenn die Pseudonym-ID in einen realen Patientenfall aufge­löst werden soll. Abhängig von der Antwort auf diese datenschutzrechtliche Frage kann ein patientenbezogenes Einschreibeverfahren (Einwilligungserklärung) pro Patient erforderlich sein.

Weitere Schritte

Die primäre Zielgruppe des Vereins für Versorgungsforschung und Vernetzung sind größere hausärztlich ausgerichtete Arztpraxen (MVZ), die durch den internen Einsatz der Suchmaschine unmittelbar einen betrieblichen Nutzen erlangen. Die Plattform der Versorgungsforschung muss sich durch den unmittelbaren Primärnutzen jedes einzelnen Nutzers selbst rechtfertigen.

Darüber hinaus sind gerade in der Anfangsphase Kontakte in die Politik und Forschung relevant, um die perspektivische Ausrichtung der weiteren Arbeiten gut abzustimmen.

Der Verein für Versorgungsforschung und Vernetzung konzentriert seine Arbeit auf die Entwicklung einer Suchmaschine, die die unstrukturierten hausärztlich internistischen Datenbestände abfragbar macht. Der unmittelbare Nutzen dieser Entwicklung liegt bei der Arztpraxis selbst, sobald diese Arztpraxis eine größere Struktur wie zum Beispiel ein MVZ ist. Zugleich muss die Frage nach einem systematischen Rollout-Verfahren beantwortet werden.

Die praxisübergreifende Auswertung und Analyse der Daten erfolgt durch den Verein und nach Klärung der datenschutzrechtlichen Rahmenbedingungen. Für die wissenschaftliche Auswertung wird eine Kooperation mit einer Hochschule angestrebt.